Erforschung von lokalem jüdischen Kulturerbe im polnisch-deutschen Kontext
Geschichte und Konzepte jüdischer Orte in Ziębice/Münsterberg
Im März fand im niederschlesischen Ziębice ein Studierendenworkshop mit dem Titel „Exploring local Jewish Heritage in the Polish-German Context. History and Concepts for Jewish Sites in Ziębice/Münsterberg“ statt. Beinahe 40 Teilnehmende – darunter insgesamt 25 Studierende aus Polen und Deutschland – waren Teil des Seminars, das sich der Dokumentation des jüdischen Kulturerbes der Kleinstadt verschrieben hatte. Ein wichtiges Ziel der Studienarbeit war es dabei, Zukunftsvisionen für die Synagoge und den Friedhof zu entwickeln. Der Workshop, der im Rahmen des DFG-Projekts „Aneignung und Revitalisierung. Aushandlungsprozesse des deutsch-jüdischen Kulturerbes in Polen“ stattfand, wurde von der Bet Tfila – Forschungsstelle für jüdische Architektur in Europa in Zusammenarbeit mit der Fundacja Ochrony Dziedzictwa Żydowskiego (FODŻ, deutsch: Stiftung für den Erhalt des jüdischen Erbes in Polen), dem Deutschen Historischen Institut Warschau, der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań sowie der Hochschule Mainz durchgeführt.
Die Stadt Ziębice liegt etwa 60 km südlich von Breslau/Wrocław und gehört seit 1945 zum Polnischen Staatsgebiet. Vor Ende des Zweiten Weltkriegs war sie jedoch unter dem Namen Münsterberg bekannt, da sie zur westlichen Region Preußens gehörte. Aus diesem Grund sind noch heute zahlreiche ehemals deutsche Wohnhäuser und öffentliche Gebäude aus dieser Zeit im Stadtbild zu erkennen. In Ziębice finden sich neben diesem architektonischen, städtebaulichen und kulturellen Erbe auch Spuren der ehemaligen jüdischen Gemeinde, die Teil der deutschen Gesellschaft war. In erster Linie handelt es sich dabei um das derzeit ungenutzte und leerstehende Gebäude der ehemaligen Synagoge und das Gelände des jüdischen Friedhofs, der sich etwas außerhalb der Stadt befindet. Während die Synagoge in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu datieren ist, so fanden wir während der Exkursion auch Grabsteine (Hebräisch: matzevot) aus sehr viel früheren Zeiten: Studierende erkannten die Jahreszahl 1782 auf einer der matzevot.
Die Synagoge überdauerte den Novemberprogrom der Nationalsozialisten im Jahr 1938 und diente während des Krieges als Lagerraum. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der kurzzeitigen Nutzung durch eine neuangesiedelte jüdische Gemeinde, wurde die ehemalige Synagoge ab 1960 zu einer Konservenfabrik umfunktioniert. Seit ein paar Jahrzehnten gehören der Friedhof und das Synagogengebäude der FODŻ. Letzteres steht seither leer und verfällt zusehends. Mit unserem Studierendenworkshop wollten wir dem Verfall entgegenwirken und wurden dabei tatkräftig sowohl von der FODŻ sowie Vertreter*innen der Stadtverwaltung unterstützt.
Für die Studienarbeit teilten sich die Studierenden in unterschiedliche Gruppen auf, die sich einerseits auf die Synagoge und andererseits auf den Friedhof fokussierten. Die Dokumentation der Synagoge mit Hilfe einer Schadens- und Materialkartierung sowie einer detaillierten Aufnahme der baulichen Gegebenheiten erfolgte durch Architekturstudierende der TU Braunschweig unter der Leitung von PD Dr.-Ing. habil. Ulrich Knufinke und Neele Menter von Bet Tfila – Forschungsstelle. Parallel dazu arbeiteten Studierende der Architektur und des Bauingenieurswesens aus Warschau, Łódź und Mainz unter der Leitung von Prof. Piotr Kuroczynski von der Hochschule Mainz daran, mit Hilfe eines Laserscanners eine digitale Punktwolke des Gebäudes zu erstellen. Diese Punktwolke kann nun zur Erstellung eines virtuellen 3D-Modells der Synagoge verwendet werden kann. Die unterschiedlichen Dokumentationsmethoden der Studierenden lassen sich in Zukunft ausgezeichnet kombinieren und dienen der Forschung, und auch dem praktischen Umgang mit der Substanz, als wertvolle Quelle. Die Arbeiten auf dem jüdischen Friedhof wurden von Krzysztof Bielawski geleitet, der damit als Mitarbeiter der FODŻ einen großen Beitrag zum gesamten Workshop leistete. Die Studierenden des Instituts für Hebräische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań reinigten mit Hilfe ihrer Dozentinnen Dr. Veronika Klimova und Ester Klein die matzevot, fotografierten sie, lasen die Inschriften und begannen mit der Erstellung eines Katalogs der Grabsteine. Dabei wurden zahlreiche Grabmäler dokumentiert und frühere Katalogisierungen der Friedhofsstrukturen durch neue, wertvolle Erkenntnisse ergänzt.
Die Arbeit aller Teams, sowohl an der Synagoge und als auch auf dem Friedhof, wurde von den Historikern Prof. Ruth Leiserowitz und Dr. Christhardt Henschel des Deutschen Historischen Instituts in Warschau unterstützt und koordiniert. Sie unterstützenden ebenso die Organisation und Durchführung des Workshops, die durch Zuzanna Światowy von der Bet Tfila – Forschungsstelle koordiniert wurden. In fünf internationalen und interdisziplinären Gruppen erarbeiteten die Studierenden schließlich ihre Ideen für die zukünftige Nutzung der Synagoge und orientierten sich dabei an den Bedürfnissen der Einwohnerschaft der Stadt. Schüler*innen der örtlichen Sekundarschule hatten bereits im Vorhinein in Interviews mit den Workshop-Teilnehmenden an einer kleinen „Gemeindebefragung“ teilgenommen, bei der sie ihre Erkenntnisse über das jüdische Erbe in Ziębice und seine mögliche Zukunft teilten. Diese Schüler*innen nahmen außerdem an einem Spaziergang auf dem jüdischen Pfaden in Ziębice teil sowie an Aktivitäten auf dem Friedhof und in der Synagoge. Auch viele weitere Anwohner*innen der Stadt verfolgten die Arbeiten aufmerksam – sie besuchten die Synagoge, kamen zahlreich zu einer symbolischen Purim-Feier und schließlich zu der öffentlichen Präsentation der studentischen Forschungs- und Entwurfsergebnisse.
Danksagung
Wir blicken auf eine sehr eindrucksvolle und im hohen Maße produktive Woche zurück und bedanken uns bei allen Teilnehmenden und Unterstützer*innen dieses gelungenen Workshops. Unser Dank gilt Frau Aurelia Przybył, einer leidenschaftliche Heimatforscherin zur Geschichte der Juden von Ziębice, die den Workshop mit ihrer inhaltlichen und organisatorischen Unterstützung außerordentlich bereichert hat. Wir danken Herrn Prof. Rafał Witkowski, dem Vizepräsidenten für Internationale Kooperationen der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań, für seine Unterstützung und seinen Besuch in Ziębice, in dessen Zuge er an unseren Purim-Feierlichkeiten teilnahm, die Bewohnerschaft sowie die Stadtverwaltung traf und sich die Ergebnisse der Studienarbeit ansah. Hiermit bedanken wir ausdrücklich bei dem Bürgermeister von Ziębice, Herrn Mariusz Szpilarewicz, und der stellvertretenden Bürgermeisterin, Frau Małgorzata Wołczyk, für die Möglichkeit, in ihrer Stadt zu arbeiten und für die große Gastfreundschaft, die wir während unserer Zeit in Ziębice erfahren durften. Außerdem ein großes Dankeschön an die örtliche Freiwillige Feuerwehr für ihre technische Unterstützung!